Gastbeitrag: Gelebte Praxis

von | 12.03.2023 | Panoramablick

Wie Gesichtlesen meinen Alltag bereichert

Vor ein paar Wochen durfte ich wieder einmal erfahren, wie bereichernd das Gesichtlesen selbst in kleinen Alltagssituationen sein kann.

Ich kam nach einem recht vollen Tag etwas erschöpft abends beim Training an. Dort stellte sich heraus, dass unsere eigentliche Trainerin erkrankt war und deshalb von einem Bekannten vertreten wurde. Mal abgesehen davon, dass mein Energielevel nicht mehr das höchste war und dadurch auch meine Bereitschaft etwas zu wünschen übrigließ, mich offen und neugierig auf „den Neuen“ einzulassen, war dieser nach dem ersten Eindruck schon auch ein etwas herausforderndes Exemplar. Weder war er vernünftig vorbereitet noch strahlte er große Motivation aus. Gleichzeitig kam er recht „bossy“ und arrogant daher und es wurde schnell deutlich, dass er der Meinung war, die Dinge sollten genau nach seinen Vorstellungen laufen. Schwierige Ausgangslage. Angespannt spürte ich, wie auch alle anderen Teilnehmer zunehmend irritiert bis genervt waren von seinem Verhalten und die Stimmung im Raum zu kippen drohte. Doch dann schaute ich ihn mir genauer an.

Der Blick ins Gesicht schenkt Verständnis

Von Anfang an war mir sein markantes und eckiges Gesicht mit den tiefliegenden Augen und der schmalen Oberlippe aufgefallen – er hatte die klassische Gesichtsform eines Königs und wäre damit eigentlich für das Anleiten der Grupfürpe prädestiniert gewesen. Ich hatte also zumindest eine Erklärung für sein dominantes Auftreten. Allerdings wirkte er keineswegs souverän in seinem Führungsanspruch, was ein Zeichen für das gewinnende Ausleben dieses Merkmals gewesen wäre. Vielmehr kam mir sein Verhalten überzogen vor… fast, als wollte er von etwas anderem ablenken… In dem Moment, in dem mir dieser Gedanke in den Kopf schoss, präsentierte sich mir auch schon die Lösung und ich musste unwillkürlich lächeln – er stand gerade seitlich zu mir und ich blickte auf ein sehr, sehr kleines Ohr!

Mitgefühl kann Brücken bauen

Menschen mit kleinen Ohren sind eher zögerlich und ängstlich und bevorzugen eine sichere Umgebung. Sie brauchen Ermutigung, denn besonders in unbekannten und damit für sie unberechenbaren Situationen überkommt sie schnell ein Gefühl von innerer Unsicherheit. Und in genau so einer Situation befand sich ja der arme Kerl, der gerade die Gruppe anleiten sollte. Er hatte wahrscheinlich sehr kurzfristig von seinem Einsatz erfahren, vermutlich keine Zeit gehabt sich vorzubereiten und stand nun vor lauter erwartungsvollen Menschen, die er nicht kannte und die immer ungeduldiger und unzufriedener mit ihm wurden. Der König in ihm war aber so stark, dass es trotz allem sein Anspruch war den Ton anzugeben, die Kontrolle zu behalten und sich auf keinen Fall die Blöße zu geben, obwohl er sich wahrscheinlich sehr unsicher fühlte. Mich überkam sofort großes Mitgefühl und ich überlegte, wie ich ihm helfen konnte, ohne ihn bloßzustellen. Ich beschloss mich auf meinen Humor zu verlassen, der mich selten im Stich lässt. Als er mich das nächste Mal etwas unwirsch in meinen Ausführungen verbesserte, machte ich einen Witz, mit dem ich mich in erster Linie selbst durch den Kakao zog, der aber gleichzeitig deutlich machte, dass ich mir mehr Anleitung von ihm wünschte, wenn das Ergebnis besser werden sollte. Im Prinzip ordnete ich mich unter und sprach ihn gleichzeitig in seiner Führungskompetenz an – ich ermutigte ihn. Und siehe da, es funktionierte gar nicht schlecht. Über meinen Witz lachten alle inklusive ihm und mir selbst, was die Atmosphäre spürbar entspannte. Als er mir dann nochmal erklärte, was er meinte und wie ich es besser machen könnte, wurde er etwas sanfter und zugänglicher, gleichzeitig aber auch klarer, sodass ich tatsächlich einen Gewinn aus seiner Korrektur ziehen konnte. Ich merkte, dass er ein echtes Interesse daran hatte, dass ich mich verbessern konnte, was mich gleich noch milder stimmte.

Vom Aushalten zum Gestalten

So schlängelten wir uns durch den Abend und es wurde zunehmend angenehmer. Natürlich hatte ich mit diesen zwei Merkmalen mein Gegenüber nicht in seiner ganzen Komplexität erfasst und sicher machte diese kleine Begebenheit keinen neuen Menschen aus ihm. Das war aber auch gar nicht nötig. Im Gegenteil, es ging nur darum sowohl ihm als auch mir etwas die Anspannung zu nehmen, damit wir uns in unserer Kraft begegnen konnten. Ich fand es in erster Linie faszinierend, wie sich mein Gefühl für den Menschen, der mich zuerst verärgert hatte, innerhalb von wenigen Sekunden in authentisches Mitgefühl wandeln konnte, weil ich über sein Gesicht eine Idee davon bekam, mit welchen Widersprüchen er vermutlich kämpfte. Frühere Versionen von mir hätten diese Situation Zähne knirschend hingenommen und wären dann frustriert und verärgert nach Hause gefahren. Diesmal aber konnte ich mitfühlend gestalten und das machte mich dankbar, friedlich und nicht zuletzt demütig. Welch ein Unterschied – selbst im Kleinen!

So darf ich immer wieder auf’s Neue erleben, dass mir in Konfliktsituationen keine „schlechten“ Menschen begegnen, sondern Personen, die gerade mit ihren vermeintlichen Widersprüchen kämpfen, genauso wie ich das manchmal mit meinen eigenen tue. In diesen Momenten sind wir alle dankbar dafür, wenn uns jemand sieht und uns eine Brücke baut, damit unsere Wesenszüge sich nicht blockieren, sondern miteinander tanzen können und uns zu den ganz einzigartigen und geheimnisvollen Persönlichkeiten machen, die wir eben sind – jeder auf seine Weise.

Gastautorin

Der Beitrag wurde von Anne Dschietzig verfasst.

Neben ihrer Tätigkeit als Heilpraktikterin ist sie im Einblickgesicht-Team unter anderem als Gesichtleserin tätig.

Weitere Informationen über Anne Dschietzig findest du auf ihrer Webseite. Ihr Angebot für eine Gesichtlesung findest Du HIER.